Big Brother, Dschungelcamp & Co.
Wo ist die Grenze der Menschenwürde?



Text:
Jens O. Brelle und Stefanie Schlichtmann
Bild: Photocase.com

Am 1. März 2000 wurde in Deutschland ein neues Sendekonzept vorgestellt, das in der öffentlichen Diskussion gar mit der Einführung des Privatrundrundfunks verglichen wurde: „Big Brother“.

Die Vorabberichterstattung hatte die Sendung zu einem "polarisierenden Format" stilisiert: Während die einen den Einzug der Bewohner in den Container kaum erwarten konnten, diskutierten die anderen über die Verletzung der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts.

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Ab Frühjahr 2007 läuft die siebte Staffel „Big Brother“. Die Aufmerksamkeit der ersten 100 Tage ist längst vergangen. Nachdem die Quoten vor allem in der dritten Staffel so stark in den Keller gingen, dass die Sendung schon abgesetzt werden sollte,  wurde das Konzept in der vierten Staffel noch verschärft. Neben den üblichen Spielchen, die Langeweile im Container und vor den Bildschirmen vertreiben sollten, enthalten neue Regeln einen Bereich für Survivor (Arme), Normale und Reiche. Ein ganzes Jahr lang kämpften insgesamt 60 Kandidaten um den Sieg. „Promis“ wie Desiree Nick, Kader Loth oder Tatjana Gsell oder auch der FDP-Vorsitzende Guido Wester-welle schauten vorbei. Mottos wie „Spürst Du die Gier?“ oder schlicht Stripperinnen und Exhibitionisten sollten die Zuschauer vor den Fern-sehern halten. Die Gemüter der Verfassungsrechtler zeigen sich heute nur noch wenig erregt in Hinblick auf solche und ähnliche Konzepte wie „Ich bin ein Star, holt mich hier raus.“

 

Quellen

Dörr, Dieter (2000): Big Brother und die Menschenwürde. Die Menschenwürde und die Programmfreiheit am Beispiel eines neues Sendeformats, Frankfurt/M, im Auftrag von RTL2.


Frotscher, Werner (2000): "Big Brother" und das deutsche Rundfunkrecht, München, im Auftrag der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk.

Gersdorf, Hubertus (2000): Medienrechtliche Zulässigkeit des TV-Formats "Big Brother". Rechtsgutachten im Auftrag der RTL2 Fernsehen GmbH & Co KG, Universität Rostock, Gerd Bucerius-Stiftungsprofessur für Kommunikationsrecht, Februar 2000.

 Hartwig, Henning (2000): "Big Brother" und die Folgen. In: Juristen Zeitung 55/2000, 971ff.

Linkliste zu Big Brother
 

Doch stellt sich trotz oder gerade wegen der verebbten öffentlicher Aufregung die Frage nach der Menschen-würde und dem Persönlichkeitsrecht (Art. 1, 2 Grundgesetz) der Teilnehmer:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.


Allgemein definiert wird die Menschenwürde als "der soziale Wert und Achtungsanspruch des Menschen, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt". Danach darf also der Mensch nicht zum Objekt, zum Mittel, zur vertretbaren Größe durch Staat oder Dritte herabgewürdigt werden. Einer solchen Herabwürdigung liegt eine Missachtung zugrunde, die eine gewisse Intensität erreicht.  Bei Verletzungen der Menschenwürde oder ihrer akuten Gefährdung hat der Staat eine besondere Schutzpflicht, unabhängig ob die Verletzung oder Gefahr von ihm selbst oder von Dritten ausgeht.

Hier können wir die drei Bestimmungsmomente der Würde wieder finden, die die neuzeitliche Auffassung auszeichnen.


1.
Der Mensch ist wesensmäßig von der Natur zu unterscheiden. Das eigentliche Wesensmerkmal des Menschen ist seine Vernunft oder, wie der Verfassungsrechtler Günter Dürig formuliert, die "Kraft seines Geistes".

2. Diese Vernunft befähigt den Menschen zur Autonomie, zur freien Bestimmung seiner selbst.

3.
Diese Autonomie macht den Menschen wesensmäßig zu einem Subjekt, mithin darf der Mensch nicht als Mittel zu einem anderen Zweck instrumentalisiert, also zu einem Objekt eines fremden Willens gemacht werden, sondern er ist als autonomes Wesen immer Zweck an sich selbst.

Bei den „Big Brother“ oder ähnlichen Konzepten stellen sich danach vor allem folgende Fragen:

Sind die Teilnehmer mit Betreten des Containers oder des Dschungel-Camps immer noch der freien Bestimmung fähig oder ist es nicht eher so, dass sie unter Dauerbeobachtung zu Marionetten der Produzenten und der Zuschauer werden? Und darf sich ein Mensch seiner freien Bestimmung selbst entledigen und sich selbst zur Marionette degradieren? Oder geht der staatliche Schutzauftrag  soweit, den Menschen auch vor solchen Entscheidungen zu schützen?

Die bereits im Vorfeld zur ersten Staffel von Big Brother eingeholten verfassungsrechtlichen Gutachten gingen bei den Bewohnern von
freien, wohlinformierten Teilnehmern aus und sahen in dem „Big Brother“-Konzept keine Verletzung der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts.

"(...) dass ein Verstoß gegen die Menschenwürde ausgeschlossen ist, wenn sich die Teilnehmer frei und in Kenntnis der Tragweite dazu entschieden haben, an dem Programm teilzunehmen." (Dörr 2000, S. 90). Die Entscheidung zur  Teilnahme an derartigen Sendungen sei gerade Ausdruck des Persönlichkeitsrechtes im Rahmen des Selbstbestimmungsrechtes. Zum Zwecke des Ruhmes und des kommerziellen Erfolges hätten die Teilnehmer  die Grenzen ihrer Privatsphäre (und tatsächlich wohl auch ihrer Intimsphäre) selbst verschoben, wenn nicht gar aufgehoben.  Die Teilnahme sei eine für die moderne Zeit typische Demonstration der Individualität und Persönlichkeit. Die Gutachten wagen den Vergleich mit Extremsportlern, die sich ja auch ganz bewusst einer Gefahr aussetzen würden.

Entscheidungsfreiheit ist aber nicht schon allein dann gegeben, wenn man ein Spiel wie
„Big Brother“ jederzeit beenden kann. Entscheidungsfreiheit bedeutet auch, sich bewusst für oder gegen einzelne Elemente eines Spiels entscheiden zu können. Die dafür nötige Transparenz ist dafür bei den „Big Brother“-Konzepten allerdings häufig nicht gegeben: Gemäß einem geheimen Regelbuch haben die „Big Brother“-Produzenten die Möglichkeit, direkt in das Spiel einzugreifen. Eine  Aufklärung über Regeländerungen erfuhren die Bewohner nur kurzfristig oder gar nicht. In der dritten Staffeln wurde beispielsweise ohne das Wissen der übrigen Teilnehmer ein „Maulwurf“ ins Haus geschickt, der nur auf Zuruf von den „Big Brother“ - Produzenten agierte und bewusst bestimmte Reaktionen bei den übrigen Teilnehmern hervorrufen sollte.

Auch über die Spielregeln der Produzenten hinaus ist fraglich, ob sich die Kandidaten derartiger Shows wirklich der Konsequenzen des öffentlichen (Seelen-)Striptease und der Beeinflussung ihrer Persönlichkeit bewusst sind. Sie haben keinen Einfluss auf die Auswahl der im Fernsehen gezeigten Bilder und damit ihrer Darstellung in der Öffentlichkeit. Dem Produzenten obliegt es, durch die Auswahl der Filmausschnitte, ein bestimmtes Bild in der Öffentlichkeit zu formen. Auch dadurch bedingt sehen sich die Kandidaten einer ungewollten und für sie oft unvorhergesehenen öffentlichen Reaktion ausgesetzt: Schmährufe der
Zlatko-Fans über die Container-Mauern hinweg brachten die Bewohnerin Manu in der ersten Staffel erst zum Weinen und schließlich zum Verlassen des Containers;  in Internet-Foren werden Lieblingsteilnehmer gewählt, andere werden diffamiert; eine große bunte Tageszeitung macht die dunkle Vergangenheit einzelner Teilnehmer zur Schlagzeile.

Die  Kritiker der „Big Brother“-Konzepte führen an, dass die Aussicht auf den Gewinn einer großen Geldsumme die Teilnehmer in ihrer Entscheidung zu gehen oder zu bleiben einschränken würde. Sogar schon der freie Entschluss, an der Sendung teil zu nehmen, sei beeinflusst durch diese Aussicht und würde vor allem sozial schwache Menschen in ihrem Selbstbestimmungsrecht einschränken. Gerade weil  heutzutage scheinbar viele Menschen den Drang haben, ihre Privats- und Intimsphäre in aller Öffentlichkeit zu präsentieren, und die Hemmschwellen vor der Kamera immer niedriger werden,  ist von Seiten des Staates im Hinblick auf seinen Schutzauftrag besondere Aufmerksamkeit gefordert.

Solange der Mensch seine Darstellung in der Öffentlichkeit noch selbst bestimmen, beeinflussen und vorhersehen kann, kann dies als Ausdruck seines Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrechts gewertet werden. Ist ein Spiel oder eine  Darstellung jedoch fremdbestimmt und nimmt unvorhergesehene Formen an, deren Folgen der Betroffene selbst nicht beeinflussen kann, so ist dies nicht mehr vom Selbstbestimmungsrecht gedeckt. Dann sollte es Aufgabe des Grundgesetzes sein, diese Menschen vor derartigen Entwicklungen zu schützen.