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Presse

Ironischer Konsum


Text: Daniel Hornuff
Illustration: Kristina Schneider


Ein-Euro-Shops gehören schon jetzt zu den definitiven Gewinnern der Wirtschaftskrise. Wo andere Industrie-, Einzelhandels-  und Dienstleistungszweige in bedenkliche Schieflage geraten, staatliche Subventionen erbitten oder bereits in Insolvenzverfahren stecken, verzeichnen gerade Non-Food-Ketten wie MäcGeiz, Tedi und EuroShop horrende, für die Verkaufsbranche ungewöhnliche Gewinnsteigerungen. Die drei großen Vertriebsunternehmen berufen sich insgesamt bereits auf über 1.000 Filialen, dazu kommen zahlreiche Einzelanbieter – schon 2010 sollen insgesamt gut 300 neue Standorte in Deutschland geschaffen werden. Durchaus selbstbewusst und voller Optimismus kündigt man in der Krisenzeit weitreichende Expansionsvorhaben an.  

Dabei griffe es zu kurz, die Umsatzsteigerungen alleine auf etwaige verbreitete finanzielle Sorgen der Kunden zu rekurrieren. Denn wer sich das Warensortiment der Billigshops näher betrachtet, ihre Wühltische und Europaletten miteinander vergleicht und – vor allem – die angebotene Warenästhetik untersucht, wird Überraschendes feststellen: Gut die Hälfte der angebotenen Artikel erfüllt keinerlei Gebrauchswert. Zu entdecken gibt es dagegen zu Hauf Plastikröschen, Plastikrüschen und Plastikbäumchen, Gardinenverzierungen im Zehnersortiment, pseudo-impressionistisches
, meist dem ‚Lilienteich´ abgepinselte Bildchen im Fünferpack, Holztiere und „Dekosteine, marmoriert, 1kg im Netz“, Windlichter, Kerzen-, Foto- und Kartenhalter gleich kistenweise, vielerorts tummeln sich Hirschgeweihe aller Art vergnügt mit dicken und dünnen Buddhas, deren Augen je nach Lichteinfall lustig in gelb-roten Tönungen blinzeln. Wie muss dieser Ramsch dem bildungsbürgerlichen guten Geschmack ein Dorn im hochkulturell geschulten Auge sein! Dabei scheint offensichtlich: In Zeiten der Krise gelangt der Kitsch wieder zur marktfähigen Renaissance. Wenn die Medien vom Verlust der Wirtschaftskraft berichten, sich die Börsenkurven in steiler Talfahrt wieder finden, die politische Elite zur Rhetorik der Rettungspakete greift und Opel und Arcandor als Symbole der Ordnungszerrüttung erscheinen, gewinnt die Nippeskultur eine neue Zugkraft.

Unterdessen verwundert kaum, dass die zunehmende Präsenz der Billigdiscounter teils massive Abwehrreaktionen hervorruft. Ihr Eindringen in die großen zentralen Einkaufspassagen und damit die Aufkündigung einer Besetzung bloß urban-peripherer Randbezirke befördere nach Einschätzung pessimistischer Gemüter eine Verrohung der Konsumenten. Mehr und mehr gierten sie bloß nach dem billigen Versprechen, ohne dabei Qualitäts- oder Nachhaltigkeitskriterien zur Kaufentscheidung heranzuziehen. Letztlich müsse man, wie der Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Fritz befürchtete, die „Discounterisierung der Gesellschaft“ beklagen.

Neben ökonomischen oder moralischen Bedenken ruft jedoch gerade die warenästhetische Dimension der ‚Ramschkultur´ den kritikübenden Einspruch auf den Plan. Ihm gilt der schöne, glatte und allzu lockende Schein als irreführende Offerte, als eine in gefährliche Illusionen hinausverlängerte Ausbeutung. Zwar zahle der Käufer für das einzelne Produkt wenig, erliege aber einem ästhetischen Täuschungsversuch, da ihm das Liebreizende angeboten und gleichsam das Inhaltsarme – Minderwertige – untergeschoben werde. Wer also etwa das „Hyazinthenglas gelb oder orange“ bei dem Internet-Ableger der Billigdiscounter ProPresent.com erwerbe, fühle im ersten Moment eine adäquate Einlösung seiner Konsumbedürfnisse, müsse aber davon ausgehen, einer bloßen Scheinbefriedigung aufgesessen zu sein – und bald werde es ihn zum erneuten Kauf eines weiteren genussstillenden Objekts drängen. Die Ausbeutungsspirale umklammere den Konsumenten und tunke ihn hilflos in die Wühltische und Angebotspaletten der Nippeskultur. 

Vor allem linksintellektuelle Einwände sehen seit Adorno den auf ökonomische Gewinnmaximierung ausgerichteten Kitsch als Verfallsbeschleuniger, als kulturunterlaufendes Entfremdungsprogramm, das auf einer bewusst gesetzten Lüge basiert: „Kitsch wäre die Kunst, die nicht ernst genommen werden kann oder will und die doch durch ihr Erscheinen ästhetischen Ernst postuliert“, so der anmahnende Adorno. Doch keineswegs geht es MäcGeiz und Co. um das Postulat eines ästhetischen Ernstes – wohl aber um Kitsch im besten Sinne: Gleich stapelweise türmt sich der disparate Zierrat und dekorative Schmuck, deren Einzelbestandteile ganz offensichtlich keine lebensalltägliche Unerlässlichkeit und erst recht  keinen ästhetischen Ernst suggerieren. Vielmehr kommen sie dem Wunsch des Käufers entgegen, stöbern und wühlen, suchen und entdecken zu können, ohne dabei eine Verpflichtung zum Erwerb des rein und dringlich Notwendigen eingehen zu müssen. Was vielen hochpreisigen, exklusiven Konsumwelten ein wesentliches Anliegen ist – die Inszenierung eines Fiktionswerts, in dem sich Käufersehnsüchte und -bedürfnisse abseits des Gebrauchswerts im jeweiligen Produkt widerspiegeln können – versuchen Billigdiscounter massenhaft auf den Warenkitsch zu übertragen. Die Funktionalität vieler dort angebotener Produkte scheint gänzlich in ein ästhetisches Surplus aufgegangen, das als schneller und reizvoller Leckerbissen, als kleines neckisches Accessoires zum Einkauf mitgenommen werden darf. Tatsächlich, so wäre dem Konsumskeptizismus zu entgegnen, zeigen sich in Ein-Euro-Shops ganze Käuferschichten von ihrer ironischen – und damit durchaus konsumkompetenten – Seite: Mit einem Augenzwinkern steckt man noch schnell das Osterhäschen Mitte August ein, um zu Hause seine gewitzte Spontaneität nachweisen zu können.  

„Wer sich weibliche Akte als Drahtfiguren der 1950er-Jahre an die Wände hängt, kommt gar nicht erst in Verdacht, sexistisch zu denken, genauso wenig wie derjenige, der mit viel Geschmack und Kennerschaft die exotischen Figürchen kleiner und spitzbrüstiger Negerinnen in ihren entzückenden Baströckchen sammelt, in den Verdacht geraten könnte, rassistisch oder eurozentristisch zu sein“. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann fasst die Wandelbarkeit des Kitschs in Präzision: Erst der Zugriff des Käufers – oder in anderen Fällen die Haltung des Rezipienten – lässt den Kitsch entweder als beherrschendes oder aber spielerisches Ausdruckselement erscheinen. Wer hingegen von der inhärenten Verführbarkeit des Kitschs spricht, wird wohl auch von der genuinen Macht der Bilder orakeln – und übersehen, dass in beiden Fällen erst ihr Umgang und Einsatz darüber entscheidet, ob kitschige Verführungen greifen oder visuelle Mächte dominieren können.

Liessmann geht in seiner Untersuchung „Kitsch! oder Warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist“ noch einen Schritt weiter: Wer sich demnach zum Kitsch bekenne, ihn vielleicht als gewitztes Aperçu einsetze oder gar schnippisch mit dem vermeintlich Niederen kokettiere, reagiere auf die Moderne in ihrer überstiegenen Gebärde – und entziehe sich ihren Dogmen: Im bewussten Ausstellen des Kitschs habe man dann „einen Weg gefunden, das zu genießen, was die radikale Moderne und die politische Aufklärung [einem] verweigern wollte: Gegenständlichkeit, plakative Sinnfälligkeit, sinnliche Religiosität, sentimentale Stimmung, Sonnenuntergänge, den C-Dur-Akkord, den Endreim, die Tränen des Glücks und eine ungebundene Lust am Exotischen.“ Liessmann erkennt im Kitsch also eine geradezu verweigernde Möglichkeit. Mit der Aneignung von Kitschobjekten könne eine Haltung der Widersetzlichkeit untermauert werden, um damit letztlich eine „sublime Rache an den Zumutungen der avantgardistischen Moderne“, an ihren asketischen Entbehrungspostulaten zu üben.  

Unter dieser weitgreifenden Einsichtnahme motiviert den Gang in den Ein-Euro-Shop nicht ausschließlich die finanzielle Sorge und damit der Gedanke des Verzichtens, der gerade in Zeiten behaupteter globaler Krisen und wirtschaftlicher Verfallserscheinungen der nächstliegende wäre. Vielmehr dürfen die Billigdiscounter und ihre Kitschwaren als leistungsstarke Ventile eines Konsumbedürfnisses gewertet werden, das sich den spontanen Schabernack, überhaupt die Ungezwungenheit nicht nehmen lassen will und daher gerade entgegen einer vermeintlichen Ökonomierationalität handelt. Kritische Einlassungen gegen die allzu bunte, oberflächliche und das etablierte ästhetische Empfinden perpetuierende Wirkungskraft der Kitschprodukte argumentieren dagegen im Geiste eines Programms der avancierten Moderne. Exemplarisch entdeckte der Kunstkritiker und Kunsthistoriker Clement Greenberg im Kitsch gar einen vergleichsweise unterlegenen Antagonist zur Avantgarde, die gemeinhin als das genuin und radikal Moderne gelten wollte: „Kitsch ist mechanisch und funktioniert nach festen Formeln. Kitsch ist Erfahrung aus zweiter Hand, vorgetäuschte Empfindung. […] Kitsch ist der Inbegriff alles Unechten in unserer Zeit“, so seine streng hierarchisierende und geradezu abrechnende Diagnose.

Vorwiegend am Kitsch entzündet sich seit jeher kulturkritischer Gemüter aller Richtungen und in aller Schärfe, kommen sie doch in der Beobachtung überein, das scheinästhetisch Lockende befördere die Verschlimmerung gesellschaftlicher, zivilisatorischer und kultureller Zustände. Als die entschiedenste Verfemung darf wohl ein Definitionsversuch des Schriftstellers Hermann Broch gelten, der Anfang der 1950er-Jahre und damit zur Hochphase des deutschen Kitschs stärkste moralische Geschütze gegen den schlechten Geschmack mobilisierte: „Und weil [der Kitsch] das radikal Böse ist, das sich hier manifestiert, das Böse an sich, das als absoluter negativer Pol mit jedem Wertsystem in Verbindung steht, deshalb wird der Kitsch nicht nur von der Kunst, sondern von jedem Wertsystem aus, das nicht Imitationssystem ist, böse sein“.    

Doch so wenig wie der Kitsch als ästhetisches Phänomen seit seinem Aufkommen zur Mitte des 19. Jahrhunderts je hinreichend zu definieren gewesen wäre, so unzulänglich erscheinen derartige, nach absolute Wertungen strebende Verlustmeldungen. Die Warenästhetik der Billigdiscounter und ihr übergreifender wirtschaftlicher Erfolg in vermeintlichen Krisenphasen macht dagegen eine Differenzierungsanstrengung erneut notwendig. Überkommen scheint vor diesem Hintergrund die Frage, ob die Nippeskultur nur Zustimmung oder Ablehnung zur Folge haben könne. Eher wird erforderlich sein, den Betrachtungswinkel zu verschieben – und die Umgangsweise mit erworbenen Kitschprodukten zu untersuchen. Häufig artikuliert sich gerade darin eine konsumkulturelle Kompetenz des Käufers, der sich aus den Kategorien von Verführung und Widerstehen absetzen kann und zum autonomen, manipulationsresistenten Einkauf fähig ist. Wie ein ironisches Sprechen ein Mittel der Distanznahme, der Abstandgewinnung und damit Ausdruck einer Souveränität ist, offenbart das ironische Konsumieren die Reflexionsfähigkeit des Käufers. Der Ein-Euro-Shop, der dem Konsumpessimisten als die Ausgeburt eines naiven Waren- und Preisfetischismus und damit als gefährliches Symptom einer allgemeinen Eintrübung der Lebensqualität gilt, stellt vor allem ein Betrachtungsfeld bereit, in dem die Kulturkraft des Einkaufens massenhaft beobachtet werden darf. Ob dabei allerdings tatsächlich ein Reaktionsmodus auf die radikale Moderne, wie es Konrad Paul Liessmann in etwas allgemeinerer Form diagnostizierte, zur Anwendung gelangt, bleibt den Ergebnissen einer – sehr wünschenswerten – kulturwissenschaftlichen Untersuchung der Billigdiscounter-Ästhetik vorbehalten. Ein ironisches und folglich kultiviertes Konsumverhalten lässt sich bei ihnen allemal ablesen.



Der Autor



Dr. Daniel Hornuff

Geboren 1981. 2001-2003 tätig als Erziehungshelfer. 2003-2005 Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Komparatistik in Leipzig. 2005-2007 Studium der Kunstwissenschaft/Medientheorie und Philosophie/Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) in Karlsruhe. Magister 2007 mit einer Arbeit über den „Bilder-Chor im Theater Piscators“, ausgezeichnet mit dem Stipendium der ZKM-Fördergesellschaft 2008. Promotion 2009 mit der Dissertation „Im Tribunal der Bilder. Über die Nachverhandlung der Realität in Theater und Musikvideo“. Seit 2007 Lehraufträge für Kunstwissenschaft an der HfG Karlsruhe; ab 2009 zusätzlich an der LMU München für Theaterwissenschaft. Seit 2008 Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes.

Weitere Informationen unter
www.bildfaehig.de.