Leben nach dem Digitaltod

Frauke Lüpke-Narberhaus hat digitalen Selbstmord
begangen – und lebt gut damit.







Text:
Frauke Lüpke-Narberhaus   
Bild:
Jonathan Schöps/photocase.com (o. r.)



Mein digitaler Selbstmord ist missglückt. Im Internet bin ich präsenter denn je. Und dabei wollte ich das Gegenteil erreichen. Anfang des Jahres habe ich mich digital ermordet. Andere würden sagen, ich habe mir maximal den digitalen kleinen Finger abgeschnitten. Denn ich habe immer noch drei E-Mail-Adressen, ich bin fleißige Online-Bankerin und ich chatte. Aber eines tue ich nicht mehr: gruscheln. Ich stöbere auch nicht mehr in fremden Fotoalben und ich hinterlasse keine Nachrichten mehr auf Pinnwänden.

Am Montag, den 7. Januar 2008, habe ich innerhalb weniger Minuten mein digitales Leben bei StudiVZ, Facebook und Xing beendet. Was dann passiert ist,
habe ich für Spiegel Online protokolliert. Zu der Zeit war das StudiVZ in den Medien ein Dauerbrenner: Thematisiert wurden entweder die Nutzer, die sich online hemmungslos entblößen und ihr Privatleben detailliert ins Internet stellen, oder die neuen Geschäftsbedingungen, denen die Mitglieder zustimmen sollten. In meinem Freundeskreis war und ist das Thema StudiVZ ohnehin omnipräsent. Von meinen Freunden und Bekannten sind gefühlte 90 Prozent Mitglied im StudiVZ, viele sind auch in Facebook und Xing vernetzt. Der eine nutzt das Netzwerk mehr, der andere weniger. Aber viele sind täglich online und die Kommunikation hat sich in das StudiVZ verlagert. Es werden keine Telefonnummern mehr ausgetauscht, sondern es heißt: „Ich schreibe Dir noch eine Nachricht über das StudiVZ.“ Auch Fotos werden nicht mehr verschickt oder auf CD gebrannt, sondern ins StudiVZ gestellt. Übers StudiVZ wird gratuliert, Beziehungen werden beendet, neue wieder aufgebaut und es wird gepost. Zu Deutsch: Jeder versucht sich in besonders gutem Licht darzustellen. Das führt zu Sprüchen wie: „Ich habe ein supercooles neues Profilbild!“ Oder: „Das ist ein tolles Foto – das solltest Du ins StudiVZ stellen!“


StudiVZ ist wie Gala lesen

Vor dem besagten Montag war ich viel in StudiVZ, Facebook und Xing unterwegs. Genau genommen war das StudiVZ eine der ersten Seiten, die ich morgens geöffnet, und oft die letzte, die ich abends geschlossen habe. Wenn ich über meinen Uni-Büchern saß und einen Durchhänger hatte, wanderte meine Maus automatisch zu StudiVZ und Facebook. Das StudiVZ ist ein bisschen wie Gala lesen, nur mit Leuten, die man kennt. Diesen Satz habe ich irgendwo aufgeschnappt und er trifft den Kern: Das Verzeichnis befriedigt mein Interesse an Freunden und meine Neugier an Fremden, vor denen ich nie zugeben würde, dass sie mich interessieren.

Das alles hat mich zunehmend genervt. Theoretisch hätte ich mich einfach disziplinieren müssen. Praktisch ist das gar nicht so einfach. Genervt hat mich auch der Profilierungswahn im StudiVZ, dem ich selbst manchmal verfallen war und genervt hat mich das ganze Tohuwabohu, das um das StudiVZ und Konsorten gemacht wurde.

Ein Freund hat mich letztlich in den digitalen Suizid getrieben: Er hat sich vor mir vom Web 2.0 verabschiedet und damit in seinem Freundeskreis heftige Diskussionen ausgelöst. Ich habe es ihm nachgemacht – öffentlich. So habe ich stellvertretend für viele andere Nutzer getestet, was eigentlich passiert, wenn man den digitalen Netzwerken den Rücken kehrt.

Zunächst einmal passierte gar nichts. Ich habe nur gewartet. Die erste Reaktion kam nach vier Stunden von meiner besten Freundin, die völlig außer sich war. Es dauerte aber nicht lange und sie eiferte mir nach. “Ich muss ja jetzt meine Diplomarbeit schreiben und ich bin doch alle zehn Minuten im StudiVZ – so wird das doch nichts...”, erklärte sie. Ein paar Tage später beichtete sie mir, dass sie sich einsam gefühlt hat und rückfällig geworden ist: Sie missbrauchte den Account ihres Bruders, um nachzuschauen, ob sie etwas verpasst hat. Hatte sie nicht.


Ich könnte das nicht. Ich bin süchtig…

Es gab auch andere Reaktionen: Auf einer Party beispielsweise legte ein ehemaliger StudiVZ-Freund seinen Arm auf meine Schulter und schrie in mein Ohr: „Mal ganz unter uns, Frauke, Du bist doch wieder drin, oder?“ „Nein, bin ich nicht!“, brüllte ich zurück. „Auch nicht unter falschem Namen, oder so?“ „Nein, auch nicht unter Buchstabensalat oder so.“ Er schüttelte den Kopf: „Nee, nee. Ich könnte das nicht. Ich bin süchtig…“. In den Tagen nach meinem Austritt vibrierten Fragen wie “Frauke, kann es sein, dass Du nicht mehr im StudiVZ bist?” in mein Handy. Ein Freund mutmaßte in einer E-Mail, dass mir die neuen Geschäftsbedingungen zu heikel geworden sind. Sogar eine Freundin, die noch nie Mitglied in einem dieser Online Netzwerke war, hat von meinem Austritt Wind bekommen.

In meinem Freundeskreis war mein digitaler Selbstmord also ein Thema. Aber weitaus weniger als ich erwartet hatte. Wie es in meinem weiteren Bekanntenkreis aussieht, weiß ich nicht. Denn meine Freunde sind mir zwar über meinen digitalen Tod hinaus treu geblieben, die guten Bekannten auch. Zu den flüchtigen Bekanntschaften hingegen ist der Kontakt eingeschlafen. Wie ein Projektseminar an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster herausgefunden hat, liege ich mit diesen Erfahrungen im Trend:
Das StudiVZ wird vor allem genutzt, um flüchtige Bekanntschaften zu pflegen. So das Ergebnis der Kommunikationswissenschaftler. Bei guten Freunden greift man immer noch zum Telefon oder trifft sich persönlich.

Weitaus heftiger als erwartet waren aber die Reaktionen von den Menschen, denen ich noch nie im Leben begegnet bin: Im StudiVZ – es war fast zu erwarten – wurde zwischenzeitlich eine Gruppe mit dem Namen “Komm zurück, Frauke Lüpke-Narberhaus” gegründet. Allerdings waren nur mickrige fünf, mir unbekannte Mitglieder beigetreten – kein Grund also, um zurückzukehren. Ich habe Radiointerviews gegeben und hunderte Blogger haben meinen Artikel auf ihren Seiten verlinkt; ein, zwei Blogs beschäftigen sich sogar nur mit dem Thema “Digitaler Suizid”. Die Blogger haben diskutiert, einige fanden es übertrieben von mir,
sich so aufzuspielen, andere haben ebenfalls digitalen Selbstmorden begangen, wieder andere haben mich bewundert: Bei Spiegel Online hat jemand den Absprung geschafft. Bravo! Ich habe es auch versucht, bin aber kläglich gescheitert. Stattdessen habe ich mir sogar noch einen Blog zugelegt.” Ich wurde zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, mir wurde angeboten, ein Buch zu schreiben und außerdem haben mir wildfremde Menschen Durchhalte-Mails geschickt.


Digital obdachlos

Noch halte ich durch. Seit rund neun Monaten lebe ich nun schon ohne ein digitales Zuhause. Meine Freunde und Bekannten leben überall verstreut in Deutschland – und der Welt. Soziale Netzwerke im Internet sind die Orte, an denen sich – trotz großer Distanz – alle versammeln und austauschen. Von theoretisch jedem Computer der Welt konnte ich dazustoßen, mit plaudern, dabei sein. Dieser öffentliche Platz fehlt mir natürlich hin und wieder. Deswegen habe ich auch schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt, wieder in ein Netzwerk einzutreten. Vielleicht stelle ich mir in Zeiten, in denen ein großes Netzwerk angeblich das A und O ist, mit meinem digitalen Selbstmord auch selbst ein Bein?

Aber noch lebe ich gut. Auch ohne StudiVZ, Facebook und Xing. Noch will ich mir und anderen beweisen, dass es auch ohne geht. Früher ging es ja schließlich auch.


 



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Autoren dieser Ausgabe

Die Autorin



Frauke Lüpke-Narberhaus,
Jahrgang 1983, studiert Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie Skandinavistik in Münster – zwei Semester hat sie an der Stockholmer Universität studiert. Sie ist Stipendiatin der Journalisten-Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung und schreibt als freie Journalistin u. a. für Spiegel Online.


luepke-narberhaus.de




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