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Presse

 

Die Dinge sind unruhig

Text und Bilder: Christian Thomas, Wien  

 

Die Vorstellung, dass es auch so etwas wie tatsächlichen Überfluss geben könnte, muss – nach Jahren des Wiederaufbaus und der überraschenden Versprechungen von bescheidenem Wohlstand in den Wirtschaftswunderjahren – verlockend gewesen sein. Etwas, das sich da „Supermarkt“ nannte, stand in den Startlöchern. Kleine Paradiese mit übervollen Regalen. Was heute vielerorts und weitgehend jede andere Art der Versorgung verdrängt hat, begann seinen heimischen Triumphzug erst zaghaft in den Siebziger Jahren.

Seither hat sich ein Prozess vollzogen, der gelegentlich als schmerzlicher Verlust zwischenmenschlichen Austausches empfunden wird – der Wechsel von der Bedienung zur Selbstbedienung. Zwar mag auch heute noch Personal für Auskunft über das Sortiment herhalten – die Qualität dieser Auskünfte ist aber zu vernachlässigen, da das beanspruchte Personal ja auch als Regalbetreuung, nicht zur Kundenbetreuung eingestellt worden ist.

Wie im Schlaraffenland ist der Kunde seinen Instinkten überlassen, seinen geplanten und spontanen Wünschen. Irgendwie und irgendwo ist alles da. Aber anders als auf dem richtigen, echten Markt, mit richtigen, echten Händlern, ruft hier niemand, dass seine Trauben die süßesten, dass sein Lungenbraten der schmackhafteste, das sein Brot das frischeste sei. Anders als im kleinen Laden gibt es keine Empfehlungen des Verkäufers.

Empfehlungen von Angesicht zu Angesicht bleiben im Supermarkt aus. Dieser Verlust muss von der Verpackung ausgeglichen werden – das Produkt muss sich selbst verkaufen. Bis in die Neunziger Jahre ist man davon ausgegangen, dass etablierte und ausreichend beworbene Produkte ohnehin verlangt, gesucht und gekauft werden. Das Sortiment war immerhin über lange Zeit überschaubar geblieben. Joghurts und Milch kamen von der zugeteilten Molkerei, Fleisch und Wurst aus der Region, Gemüse aus dem Umland. Mit der Öffnung der Märkte änderte sich das. Das Angebot und damit auch die Konkurrenz wurden größer. Sollte es etwa geschehen, dass sich die Produkte nicht mehr wie von selber verkaufen würden? Sortimente wurden bereinigt, Artikel verschwanden. Schließlich begann gegen Ende der Neunziger Jahre, in dem jahrzehntelang beschaulichen Dasein der Waren ein nervöses Zappeln um sich zu greifen. Alles war auf einmal anders und wohl irgendwie beunruhigend geworden.

Man begann sich klar zu machen, dass man unentwegt um die Aufmerksamkeit der Kunden ringen muss. Diese Überzeugung führte nun geradewegs in das halt- und rastlose Bemühen, permanent für „Positionierung“ sorgen zu wollen. Das schien gerade im Überfluss an Desorientierung in der Welt der Millenniumsjahre bitter nötig. Also setzte man darauf, jahrelang vernachlässigte Produkte mit brandaktuellen Attributen auszustatten, um so die gewünschte Beachtung heraufzubeschwören. Was man für aktuell halten sollte, gaben Grafiker, Agenturen und bald der eine, bald der andere Marketingleiter vor. Neben beschleunigten Produktlebenszyklen und beschleunigten Produktentwicklungszyklen war dann mit einem Mal von beschleunigten Designlebenszyklen zu hören.

Nach Leibeskräften bedient man sich bis heute an allem, was Technologien und Gestaltungswelt hergeben. Oberstes Gestaltungsziel ist ständige Verbesserung, Erneuerung, Veränderung, egal wie, Hauptsache dass. Kaum wird eine Gestaltungslinie umgesetzt, zieht eine andere nach. Jeder folgt irgendeinem Trend, den ein anderer vorgegeben hat und dem auch schon alle anderen gefolgt sind. Maßnahmen werden verlangt. Maßnahmen werden geboten. Nur nichts auslassen! Nur nichts übersehen! Die Angst sitzt tief. Die Unsicherheiten sind allgegenwärtig. Globalisierung ist kein Honiglecken.

Auch beim Shopdesign wird nicht geschlafen. Mit regelmäßig neuen Regalplänen wird Abwechslung geschaffen, wird Unruhe erzeugt. Wer sein Produkt erwartet, wo es gestern war, findet dort ein anderes. Nie soll etwas genau so bleiben, wie es eben noch war. Alles arbeitet gegen die Gewöhnung. Es ist paradox: Man hat unsere Unaufmerksamkeit genauso dringend nötig wie unsere Aufmerksamkeit. Solche Manöver, die ausgerichtet sind auf versteckten, aber größtmöglichen Anreiz, sollen von uns gar nicht erst richtig registriert werden. Sie sollen uns unterschwellig wach halten. Gelegentlich irritieren sie uns.

Bemerkenswert an diesem allenthalben verordneten Zwang zur Veränderung ist der offenbare Widerspruch zu dem Bestreben, dadurch die Positionierung des Produktes und die Orientierung im Angebot zu verbessern. Die Kulisse unseres Alltags, ein Potpourri aus Putzmitteln, Pralinen, Schaumbädern und Fertiggerichten, wird nicht dadurch signifikanter und verständlicher, indem man darin unentwegte Änderungen Einzug halten lässt. Längst haben wir das panische Gehampel in unserem Umfeld ausgeblendet. Die Anreize nutzen sich ab.

Wir richten unsere Aufmerksamkeit nicht mehr ungeteilt in unsere Umgebung. Diese Exklusivität ist nicht mehr gegeben, da die Grenzen zwischen hier und woanders, zwischen Mitte und Peripherie, zwischen privat und öffentlich – sogar zwischen senden und empfangen – ihre Verbindlichkeit eingebüßt haben. Wir orientieren uns weiträumiger – aber wir sind dabei zwangsläufig weniger fokussiert und damit scheinbar weniger achtsam. Wir müssen mit unserer Achtsamkeit haushalten. Sie ist nicht unerschöpflich. Programmierte Erregung als Zaubermittel gegen sinkende Aufnahmefähigkeit wird längerfristig ins Leere laufen. Wir entziehen den hektischen Anstrengungen um unsere Gunst allein schon aus Selbstschutz unsere Aufmerksamkeit. Wir wollen sie nicht verarbeiten. Wenn wir schon gegen das ewig Gleiche abgestumpft gewesen sein sollen, warum sollte es anders sein, nur weil jetzt das ewig Gleiche ein ewig gleiches Anderes ist?

Ja, Änderungen der Gestaltung sind immer notwendig gewesen. Etablierte Werte mussten immer neuen Wahrnehmungsroutinen angepasst werden. Im Ideal handelt es sich dabei um einen kultivierten Vorgang des kontinuierlichen Austarierens, der ein Empfinden für Nuancen voraussetzt. Das Bewusstsein dafür, welche Haltung zu welcher Zeit dem Unternehmen und dem Angebot angemessen ist, war immer ein Beweis für Qualität, ein Zeugnis für eine grundlegende Wertschätzung für das Produkt und dessen Konsumenten. Hingegen sind Veränderungen um der Veränderung willen – lediglich mit der ausschließlichen erklärten Absicht, Aufmerksamkeit zu generieren, und aus der unbequemen Lage heraus, anderenfalls etwas zu verabsäumen – vor allem eines: beliebig. Mit Positionierung hat so etwas gar nichts zu tun. Das ist ernüchternd, insofern, als ja gerade „Positionierung“ das erklärte Ziel gewesen ist.

Die irrwitzige Lage lässt sich von außen ja leicht erkennen: Im Ringen um eine Position in einem unruhigen, zur Instabilität neigenden Ordnungsgefüge, veranstaltet man obendrein ein verzweifeltes Hakenschlagen, um der Lage Herr zu werden, und macht nur alles noch viel schlimmer. Nur – mal ehrlich: Was soll man tun? Wir sind ja alle Menschen; das ist ja das Problem.

Wenn wir als gegeben voraussetzen, dass jede massenhaft vervielfältigte Gestaltung immer auch unter dem Einwirken gesellschaftlicher und kultureller Impulse zu bewerten ist, lässt sich der Zustand permanenter und zunehmender Verwandlung unserer Konsumgüter durchaus als Indikator darauf verstehen, dass unsere Position im Spannungsfeld zwischen Bewahren und Verändern gehörig in Bewegung geraten und noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Wie jede andere Artikulation innerhalb des öffentlichen Lebens – Architektur, Bewegtbild- und Printmedien oder Web 2.0 – bilden auch die Regallandschaften in den Supermärkten eine gesellschaftliche Momentaufnahme ab.

Der nahe gelegte Verdacht eines leichtfertigen Umgangs mit Traditionen, mit Unternehmensgeschichten und -identitäten zugunsten eines wenigstens kurzfristigen Erfolgs im Rittern um Marktanteile ist gerade deswegen keineswegs haltbar, als ja genau wie die Verbraucher auch die Produkt- und Marketingverantwortlichen mit den diffusen Regeln und dem Orientierungsdefizit unserer Gegenwart konfrontiert sind. Sie bewältigen ihre Herausforderungen aufgrund ungesicherter Voraussetzungen und retten sich heute in die eine, morgen in die andere Ausdrucksform ihrer ruhelosen Versuche. Das Bedürfnis nach Beachtung ist eben schwer zu befriedigen angesichts einer zerstreuten Massenhaftigkeit des Konsums, gegen die wir vermeintlich unempfindlich und indifferent geworden sind.

Wenn es um Veränderungen geht, begeben wir uns außerdem sowieso immer auf unsicheren Boden, sowohl in der Rolle derjenigen, die sie aktiv herbeiführen, als auch in der Rolle derer, die sie ihrer gewohnten Ordnung neu eingliedern müssen. Wir dürfen voraussehen, dass das Betreiben permanenter Unsicherheit daher letztlich keine befriedigende Antwort auf ungeordnete Rahmenbedingungen darstellt. Das Bedürfnis nach Stabilität und Orientierung wird auch – oder sogar vor allem – in einer Kultur gesteigerter Innovationen nach Lösungen verlangen, die als Ausdruck der Wertbildung und Werterhaltung erkennbar und spürbar sind – die damit also eine schnelle Wertung ermöglichen. Wenn vorrangig Anerkennung und Respekt gegenüber den Erwartungen und den Bedürfnissen der Menschen in das Verständnis für eine qualitätsvolle Gestaltung der Dinge einfließen, dann werden sich Dinge auch bald wieder beruhigen.

Der Autor




Christian Thomas

Christian Thomas hat 1995 in Wien ein Studium als Wirtschafts-ingenieur abgeschlossen. Während der 90er-Jahre arbeitete er für verschiedene Werbeagenturen und als stellvertretender Verlagsleiter der österreichischen Niederlassung eines deutschen Verlagshauses. Gemeinsam mit Armin Hitzler gründete er 1999 das Unternehmen „Concept 8“ in Wien. Concept 8 entwickelt Markenkonzepte für Unternehmen und wird sich ab Sommer 2007 mit vergrößerter Mannschaft verstärkt auf Betreuung in der Markenführung und Identitätsmanagement konzentrieren. Seit etwa vier Jahren betreibt Christian Thomas im Internet die Sammlung „Vorher Nachher“, die sich als Appell an die tägliche Aufmerksamkeit versteht und den Zustand permanenter Veränderung von Konsumgütern dokumentiert.


Concept 8
Vorher-Nachher.at