Das soziale Netz


Gerade hatten sie sich eingelebt, E-Mails geschrieben, Bücher bestellt, Geld überwiesen, sogar bei Auktionen mitgeboten. Es gab keine Überraschungen mehr im Internet für Otto Normalverbraucher und Eva Mustermann. Zuletzt kommentierten sie sogar Beiträge bekannter Nachrichten-Seiten und mischten munter in Foren mit. Manchmal sogar unter dem eigenen Namen. Dann war der Ton meist auch freundlicher. Bravo. Der erste Schritt war getan.

Aber wirklich nur der erste Schritt. Geradezu eine „Umwälzung“ geschehe, ein „dichtes Geflecht von Kommunikations- und Informations-möglichkeiten“ wachse da heran, „die den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen“. Das schreibt der Journalist Mario Sixtus in der Online-Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“. Otto und Eva, die es inzwischen bis ins Internet-Ressort bei Zeit Online geschafft haben, horchen auf: Umwälzung? Bedürfnisse? Die Rede ist von Social Software – Internet-Anwendungen, die die soziale Vernetzung von Menschen unterstützen.

Über Social Software wie Weblogs und Wikis werden alle erdenklichen Informationen geteilt: Expertenwissen und private Lebensbetrachtungen, berufliche Kontakte und Urlaubsfotos. Eine vielfältige Interaktivität zeichnet die neuen Anwendungen aus, in deren Zentrum Weblogs (kurz Blogs) zu finden sind (siehe
Ausgabe 40 der Gegenwart).

Doch wer sind die Macher, wer die Leser von Blogs? Klar, dass diese Fragen sich nicht pauschal beantworten lassen. Die privaten Betrachtungen von Ulrike aus Rheinland-Pfalz, die hautnahen (und anonymen) Berichte aus dem Kriegsgebiet („Warblogs“) oder die kritische Medienberichterstattung („Watchblogs“) von „Bildblog“ richten sich an vollkommen unterschiedliche Zielgruppen – und dies mit vollkommen anderen Zielsetzungen. Während Ulrike schlicht Tagebuch für sich und ihren Freundeskreis führt, informiert der Warblogger (im Optimalfall) an den klassischen Medien vorbei über Kriege und Krisen, der Watchblogger mit journalistischem Hintergrund kritisiert gesellschaftliche Zustände.

Die Aufmerksamkeit der meisten Leser richtet sich auf Blogger, die ihre Beiträge an altbekannten journalistischen Qualitätsmaßstäben ausrichten. Sie verfügen über eine passende Schreibe, erzeugen Spannung und achten auf die Richtigkeit der Fakten (die ansonsten von der Leserschaft in den Kommentaren eingefordert werden könnte, allerdings erst nach der Veröffentlichung der fehlerhaften Informationen). Aber vor allem: sie nutzen ihre Blogs als Netzwerk-Plattform, um mit anderen ins Gespräch zu kommen – und natürlich auch, um Aufträge zu erhalten.

Doch erreichen sie Otto und Eva? Was ist mit der Masse der Mediennutzer, die zwar „online“ sind, aber von Social Software und Weblogs noch nichts gehört haben? Oder denen, die zwar davon gehört haben, sich aber trotzdem nicht dafür interessieren? Klar, die verschenken Möglichkeiten, soviel ist sicher. Und sie werden irgendwann und irgendwie doch noch mit im Boot sein. Früher oder später kommt man an Social Software nicht mehr vorbei.

Und dann? Wenn die Aufmerksamkeit für ein Blog steigt, kommen – klar – immer mehr Leser auf die Seite. Die soziale Basis wird breiter, die Zahl der Kommentare wächst rapide. Und spätestens dann ist nicht mehr jeder Gast mit gängigen Benimmregeln vertraut, zu konstruktiven Statements in der Lage. Kurz: der Ton wird rauer, Diskussionen drohen in Pöbeleien zu enden. Nicht umsonst und vollkommen nachvollziehbar hat zum Beispiel Bildblog die Kommentarfunktion wieder abgeschafft, wie Christoph Schultheis auf dem jonet-Tag 2005 erklärte. Dabei leidet freilich die Interaktivität, aber die Qualität bleibt gewahrt. Und: Juristische Folgen bleiben den Machern erspart. Aber kann dann noch von Social Software die Rede sein, wenn die Interaktivität fehlt?   

Wie geht es weiter im sozialen Netz? Gegenwart-Autor Daniel Kruse hat mit zwei Leuchttürmen der Blogosphäre über die sozialen Umwälzungen im Web gesprochen:
Mario Sixtus und Johnny Haeusler: Relaunch mit Mensch.

Mario Sixtus, der unter sixtus.net ein eigenes Blog betreibt, erklärt die Eckpfeiler der Social Software. Haeusler, der mit seinem Blog „Spreeblick“ einst den Jamba-Skandal aufdeckte (genauer gesagt veröffentlichte er einen Beitrag über die Geschäftspraktiken des Klingeltonanbieters „Jamba“ im Erzählstil der „Sendung mit der Maus“ in seinem Blog, der binnen kurzer Zeit in den “klassischen Medien“ aufgegriffen worden ist), experimentiert derweil mit den Kommerzialisierungsmöglichkeiten von Blogs, gibt den Spreeblick-Podcast heraus und hat einen Weblog-Verlag gegründet.

Weitere Momentaufnahmen des aktuellen Weblebens finden Sie auf der aktuellen
Startseite der Gegenwart. Claudius Rosenthal diskutiert das Verhältnis von Mensch und Medien, Daniel Fiene erklärt Podcasting, Kai Haller ist begeistert von "Download, Sample, Cut-up, Share!", Medienanwalt Jens O. Brelle kümmert sich um einen erfundenen Bestseller-Autor, Malte Florian Klein telefoniert kostenlos stundenlang aus Finnland, Thomas Sommer ist dabei, wenn die Spinne in der Yucca-Palme im Internet ihr Comeback feiert, Marion Buk-Kluger erträgt tapfer die erste Online-Novela und Petra Bäumer lebt für Die Gegenwart kurzzeitig am Ende der Welt neu in der Stadt und ohne Internet in München.

Ihr

Björn Brückerhoff
 

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AUSGABE 46
DAS SOZIALE NETZ





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EDITORIAL VON BJÖRN BRÜCKERHOFF

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