Im Western nichts Neues?
Ein identitätsstiftendes Filmgenre

TEXT:
JONS MAREK SCHIEMANN
BILD: PHOTOCASE.DE



Jedes Genre hat seine Funktion, die es nicht nur in Bezug auf die Erwartungen der Zuschauer und Hersteller erfüllt. Abgesehen von dieser Funktion steht das Genre als werkumspannendes Muster auch als Spiegel der Gesellschaft und erfüllt gegenüber dieser eine Aufgabe. Dieses muss nicht immer angenehm sein: der Thriller, zu denen ich solche Filme zähle, in denen ein Unschuldiger in die Mühlen des Systems und unter Verdacht gerät, zeichnet ein eher düsteres Bild der Städte und der Gesellschaft. Eine Komödie hingegen zeigt, dass man auch über Unzulänglichkeiten lachen kann und sich so unbeschadet einen Spiegel vorhält. Doch auch Komödien können Tabus brechen, wie beispielsweise die KZ-Komödie „Das Leben ist schön“.

Der Western ist ein originär amerikanisches Genre. Auch wenn Karl May seine Abenteuerromane in den Wilden Westen verlegte, folgte er doch nur den literarischen Spuren von James Fenimore Cooper mit seinen Lederstrumpf-Romanen. Jetzt stellt sich aber die Frage, warum gerade der Western ein solch (ehemals) lebendiges Genre war.

Der Western ist die amerikanische Geschichte und zwar, zynisch gesagt, die einzige richtig historische. Amerika als „junges“ Land zählt Geschichte im Grunde erst ab der Landung der Mayflower mit den Pilgervätern im 17. Jahrhundert. Und übersieht dabei die Geschichte der Indianer. Aber der Sieger schreibt die Geschichte. Der historische Wachstumsprozess des Landes und der Nation  bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wird in der Pop-Kultur zusammengefasst als der Western. Zur Erinnerung: der amerikanische Bürgerkrieg war 1865-69 und als John Ford 1946 seinen Western „Faustrecht der Prärie“ drehte, griff er auf ein selbstgeführtes Interview mit dem legendären Wyatt Earp zurück, um die Schießerei am OK-Corrall originalgetreu darstellen zu können.

Aber hier liegt auch schon das erste Problem: Wyatt Earp ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und strickte weiter an seiner Legende. War der berühmte Gunfight im Grunde nichts anderes als ein Bandenkrieg zwischen zwei rivalisierenden Gangsterbanden, wurde Earp zu einem Helden hochstilisiert. So wurden durch Trivialromane, unseren Groschenheften vergleichbar, Helden entwickelt, die keine waren: Jesse James war alles andere als ein moderner Robin Hood, Wild Bill Hickock ein jähzorniger Draufgänger und Billy the Kid ein psychopathologischer Mörder. Aber eine Gesellschaft braucht ihre Helden und so drückt sie beide Augen zu. In John Fords Meisterwerk „Der Mann der Liberty Valance erschoss“ sagt der Redakteur zum Schluss: „Bei der Wahl zwischen der Wahrheit und der Legende drucken wir die Legende.“

Der Western schildert die Entwicklung, den Aufbau und das Wachstum Amerikas. Zwar durch einen Zerrspiegel, aber Amerika musste seine Geschichte im Gegensatz zu Europa erst noch schreiben. Der Einsatz des einzelnen wurde im Western hochgeschrieben: aus eigener Kraft alles erwünschte erreichen zu können auch wenn es Opfer kostet. Der wilde Westerner wurde dabei meistens durch eine Frau gezähmt.

Die heilige Kuh Western wurde allerdings in den 1960er Jahren durch die Italiener mit ihren Italowestern geschlachtet . Von den Amerikanern verächtlich „Spaghettiwestern“ genannt, war der Held des amerikanischen Typus a la John Wayne, Henry Fonda und Gary Cooper nicht mehr vorhanden. Wie Clint Eastwood, der erste Held des Italowestern, es in einem Interview ausdrückte: „Ich bin der Held. Aber ich schieße dem Bösen in den Rücken.“ Als „Für eine Handvoll Dollar“ in den amerikanischen Kinos anlief, war die Bevölkerung empört, dass der vermeintliche Held einer Frau in Not nicht zur Hilfe kommt, sondern erst tätig wird, wenn er weiß das er Geld dafür bekommt. In „Leichen pflastern seinen Weg“ wird der Anti-Held sogar in die ewigen Jagdgründe geschickt und in „Django“ werden die Gegner zu Dutzenden erschossen. Der Blutzoll des Filmes war so hoch, das er in England lange Jahre verboten war.

Aufgrund der Entwicklungen, die der europäische Western unter Sergio Leone und Sergio Corbucci genommen hatte, musste der amerikanische nachziehen. So wurden die Filme nicht nur, generell gesehen, brutaler, sondern auch sozialkritischer und im Zuge der Studentenrevolten und des Vietnamkrieges wurde auch die Rolle der Indianer neu definiert. Wie in „Little Big Man“.

Trotzdem ließ das Interesse an dem Western nach und die Identitätsproblematik verlegte sich auf den Thriller und den Polizeifilm. Die Westerntypische Action wurde abgelöst durch den neu entstandenen Action-Film als eigenes Genre.

In den 1980er Jahren war der Western im Grunde so tot wie seine Helden. Nur Clint Eastwood hielt durch und belebte Anfang der 1990er mit seinem Meisterwerk „Erbarmungslos“ für kurze Zeit das Genre. Es blieb bei einem Strohfeuer und im Kino läuft kaum ein Western erfolgreich. Die meisten neuen Western sind allerdings in Videotheken erhältlich. Und bei denen fällt etwas auf: diese Filme sind auf historische Wahrheit bedacht. Ein bisschen ausgeschmückt, aber im Großen und Ganzen historisch korrekt (z.B. „Tombstone“, „The James Gang“, „Wild Bill“). Eine Mythen- und Legendenbildung wird durch solch „Biographien“ zwar immer noch betrieben, aber mit einer anderen kritischeren Perspektive.



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